»Ich warne dich, Etienne. Kehr nicht wieder den Lehrer raus. Ich bin nicht mehr deine Schülerin. Ich bin deine Frau!«
»Als solche hast du mir Treue und Gehorsam gelobt, erinnerst du dich?«, knirschte er zwischen den Zähnen.
»Ehrlich gesagt nicht, weil ich in jenem Augenblick ziemlich benommen war. Kannst du mir bitte beim Öffnen des Oberteils helfen?«
Sie hatte bereits drei Knöpfe geöffnet und drehte sich ihm nun zu.
»Julia?«, fragte Etienne heftig atmend. »Versuchst du etwa mich abzulenken, indem du mich verführst?«
Sie lächelte unschuldig. »Funktioniert’s denn?«
Aber was Etienne daraufhin antwortet, müsst ihr selbst nachlesen
Prolog
Der König war kalt und abweisend. Alle Anwesenden im Raum spürten seine unterdrückte Wut und verhielten sich so ruhig wie möglich, um nur ja nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Schreckliches konnte einem dann widerfahren.
Doch seine ganze Wut richtete sich auf die beiden Gestalten vor ihm. Das Mädchen fühlte sich furchtbar. Es hatte große Angst und wusste: Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, war ein lebenslanger Aufenthalt im Kloster; das Zweitschlimmste eine Heirat mit einem Mann, den sie nicht liebte, und die anschließende Verbannung auf dessen Ländereien. Aber davor fürchtete sie sich nicht.
Nein, sie wusste ganz genau, weshalb sie so große Angst hatte. Sie bangte um den Mann an ihrer Seite. Er konnte verurteilt, verbannt, all seiner Ämter enthoben und aller Besitztümer enteignet werden. Wie sollte dieser stolze Mann das überleben – verarmt und auf Almosen angewiesen?
Der König zögerte die Spannung ins Unerträgliche hinaus.
Endlich begann er zu sprechen: »Ihr habt Euch gegen Uns aufgelehnt und somit Verrat an Eurem König und Frankreich begangen. Monsieur de Montsauvan, Ihr habt Mademoiselle geholfen und wider besseres Wissen unterstützt. Hiermit werdet Ihr all Eurer Ämter enthoben. Ihr werdet den Hof unverzüglich verlassen und Eure gesamten Besitzungen werden Uns augenblicklich überschrieben. Euer Vermögen wird eingezogen, Ihr werdet Frankreich verlassen und Mademoiselle wird wie vorgesehen heiraten.«
»Nein!«, schrie das Mädchen verzweifelt. Sie warf sich vor dem König auf die Knie. »Sire, es ist allein meine Schuld. Er konnte nichts dafür. Bestraft nicht ihn für meine Vergehen.«
Der König sah eisig auf sie herab und sie wusste, es war um sie geschehen. Sie war in Ungnade gefallen. Und noch schlimmer: Etienne de Montsauvan ebenfalls.
Das Mädchen schrie.
1. Kapitel
EIN SELTSAMER GEBURTSTAG
Entsetzt wachte Julia auf. Das Nachthemd klebte an ihrem schweißnassen Körper. Mit klopfendem Herzen tastete sie nach einer Lichtquelle auf dem Betttisch.
Ihre Hand fand eine Kerze.
Erleichterung breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie war in Versailles und Ludwig XIV. war nicht sauer. Zumindest vor ein paar Stunden bei der Soiree im Großen Gemach war er noch gut gelaunt gewesen.
Julia stand auf und trat ans Fenster. Sie öffnete einen Fensterladen und blickte auf den Park hinunter, wo gerade die ersten Sonnenstrahlen die Baumkronen in der Ferne beschienen. Das Wasser des Grand Canal glitzerte sanft.
Den Unwillen des Königs wollte sich niemand zuziehen. Von ihm hing alles ab. Wer war das Mädchen aus ihrem Traum gewesen?, überlegte Julia und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Sie selber? Sie war sich nicht sicher. Jedenfalls war dieses Mädchen Etienne de Montsauvan wesentlich tiefer zugeneigt gewesen als sie. Nein, sie konnte es nicht gewesen sein. Der Traum begann bereits zu verblassen. Nur eine vage Unruhe blieb zurück.
Sorgte sie sich etwa um Etienne? Aber weshalb sollte sie sich sorgen? Was konnte ihm schon zustoßen? Er stand hoch im Ansehen des Königs und er war vernünftig genug, um sich nicht von einem Paar hübscher Augen den Kopf verdrehen zu lassen und so in königliche Ungnade zu fallen.
Es musste etwas anderes sein, das sie beunruhigte.
Irgendwo im Schloss schlug eine Uhr. Eine Uhr, die während der Revolution in knapp hundert Jahren zerstört oder gestohlen werden würde, denn in ganz Versailles hatte es bei ihrem Schulbesuch vor einem Jahr keine Uhr aus dem siebzehnten Jahrhundert gegeben.
Julia zählte fünf Schläge. In einer Stunde würde alles zu neuem Leben erwachen. Der König erhob sich um halb acht. Bis dahin wäre das ganze Schloss schon auf den Beinen, denn seine Familie musste beim Aufstehen, dem Lever, anwesend sein. Dann würde der Tag seinen Lauf nehmen. Ein neuer Tag am Hof von Versailles im strengen Reglement der französischen Hofetikette. Ein weiterer Tag gefangen im siebzehnten Jahrhundert in Frankreich.
Und schlagartig wusste sie, warum sie aufgewacht war und sich so seltsam fühlte.
Es war ihr Geburtstag.
Der zweite Geburtstag, den sie hier erlebte.
Ihr achtzehnter Geburtstag.
Seit mehr als eineinhalb Jahren war sie hier. Gefangen in der Vergangenheit. Im goldenen Käfig von Versailles. Seit über einem Jahr war sie ein Mitglied des königlichen Hofstaates. Vor einundzwanzig Monaten war sie, gekleidet in Jeans und einer schmutzigen pinken Jacke, Ludwig XIV. bei der Jagd in die Arme gestolpert.
Sie war mit ihrer Freundin Nina ausgeritten. In Deutschland, im einundzwanzigsten Jahrhundert. Das Pferd war von einem Wildschwein an einer alten Keltenstätte erschreckt worden und durchgegangen. Als es endlich zum Stehen kam, stand Julia dem Sonnenkönig gegenüber. Im Park von Versailles. Dem noch lange nicht fertig gebauten Schloss von Versailles – denn es war das Jahr 1677.
Irgendetwas an ihr musste dem König gefallen haben, denn er hatte sie nicht in den Kerker werfen und auspeitschen lassen, sondern sie als sein Mündel anerkannt und der Fürsorge eines Lehrers übergeben. Das bedeutete auch: Sie befand sich seit ungefähr sechshundert Tagen in der Obhut eines Mannes, der sie tanzen, reiten und perfekt französisch sprechen gelehrt hatte.
Einundzwanzig Monate in der Gesellschaft von Etienne de Flémont, des Grafen de Montsauvan. Monate, in denen sie nicht nur viel gelernt, sondern auch einen Freund gefunden hatte. Den besten Freund, den sie je gehabt hatte.
Aber auch der dachte nicht an ihren Geburtstag. Sie hatte das Datum wohl mal erwähnt, aber in diesem Zeitalter zählte der Geburtstag nicht. Es war ein bisschen wie in Hollywood: Niemand feierte den Tag, der ihn älter machte, aber jeder drängte ins Rampenlicht, um vom Produzenten des Ganzen entdeckt zu werden. Produzent war in diesem Fall der König. Ein König, der sie zwar freundlich aufgenommen hatte, aber nicht mehr gehen ließ. Mal davon abgesehen, dass sie auch nicht gewusst hätte, wohin sie gehen sollte. Ihre Familie war über fünfhundert Kilometer und dreihundert Jahre entfernt. Und die erinnerte sich heute garantiert an ihren Geburtstag.
Julia dachte daran, dass ihre Mutter ihr immer einen mit Kerzen bestückten Kuchen gebacken hatte und nachmittags ihre Großeltern zu Besuch gekommen waren. Sie dachte an die Kindergeburtstage, die ihre Mutter so liebevoll ausgerichtet hatte – mit allen Kinderspielen, die man sich nur vorstellen konnte. Sie vermisste ihre Mama. Jetzt, in diesem Moment, ganz schrecklich. Sollte sie sie wirklich nie wiedersehen?
Mit einem Mal war Julia das riesige Schloss zu eng. Es erstickte sie. Sie zog sich an und betrat den Salon, der ihr Schlafzimmer von dem Etiennes trennte.
Die Tür zu seinem war geschlossen.
Hoffentlich schlief er fest. Denn sollte er die Tür zum Flur zu dieser Uhrzeit hören, wäre er schlagartig hellwach und käme mit gezückten Degen herausgesprungen. Allein deswegen hatte Julia ihre Schuhe mit den harten Absätzen in der Hand und würde sie erst später anziehen.
Niemand stellte sich ihr in den Weg, als sie die Treppe erreichte. Die ersten Dienstboten, die ihr entgegenkamen, warfen ihr nur einen erstaunten Blick zu. Kein Wunder. Außer den Dienstboten lagen noch alle in den Federn.
Im Treppenhaus begegnete Julia einem Mädchen mit einem Korb voll frischem Brot. Der Duft des warmen Weißbrots ließ Julias Magen laut knurren und das Mädchen reichte ihr lächelnd eine Stange. Julia dankte ihr erfreut.
Das war auch etwas, das sie hier mochte: Die Menschen waren freundlich und entgegenkommend. Natürlich lag das in erster Linie daran, dass Ludwig XIV. ihre Vormundschaft übernommen hatte, und sicherlich auch an ihrem gut aussehenden jungen Lehrer, Etienne de Montsauvan.
Julia biss genüsslich in das Brot. Es war warm und fluffig gebacken und die Kruste knackte so schön beim Reinbeißen. Julia schloss verzückt die Augen. Und rannte prompt in jemanden hinein. Sie wäre rückwärts gefallen, wenn derjenige sie nicht festgehalten hätte.
»Hmpf«, machte er, und als sie aufsah, blickte sie in das überraschte Gesicht von Monsieur Bontemps. Monsieur Bontemps war der persönliche Kammerdiener von Ludwig XIV. und für seine unaufdringliche und verschwiegene Art am ganzen Hof bekannt.
»Entschuldigung«, sagte Julia.
»Nicht doch, Mademoiselle«, sagte Bontemps und trat einen Schritt zurück. »Ihr seid früh unterwegs. Weiß Monsieur de Montsauvan davon?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen und Julia verstand die indirekte Frage dahinter: Schleichst du etwa zu einem Liebhaber?
»Ich wollte in den Park, frische Luft schnappen.«
Bontemps neigte leicht den Kopf. »Ihr wollt doch nicht etwa andeuten, im Schloss würde es unangenehm riechen.«
Der Duft des frischen Brotes hing zwischen ihnen.
»Nein, Monsieur. Ich fühlte mich nur etwas beengt.«
»Ach, das Schloss erdrückt Euch?« Sein Blick wich kurz zu den Gerüsten hinter Julia, die eine neue, weite Galerie einrahmten.
Meine Güte! Er würde doch so was nicht dem König weitergeben? Dann würde sie mit Sicherheit in Ungnade fallen! Verzweifelt schaute sie sich um, als ein Lakei mit einem Nachttopf vorbeilief.
Erst jetzt sah sie Bontemps leicht gehobenen Mundwinkel.
»Beim Porzellantrianon werdet Ihr ungestört durchatmen können. Das ist in diesen frühen Morgenstunden zu der Jahreszeit der schönste Platz von Versailles«, sagte er und ging weiter.
***
Der Park war zu dieser frühen Stunde leer bis auf die Gärtner. Und die achteten nicht auf sie. Viel zu viele Mädchen schlichen sich hinaus, um einen heimlichen Geliebten zwischen den Büschen zu treffen.
Julia war das nur recht, so konnte niemand ihre Tränen sehen, denen sie nun freien Lauf ließ. Sie vermisste ihre Mutter und gleichzeitig plagte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so lange nicht mehr an sie gedacht hatte. Seit vor einem halben Jahr ihre letzte Suche nach einem Weg zurück vergebens geblieben war, hatte sie es nicht mehr versucht und jeden Gedanken an zu Hause verdrängt, weil sie so schmerzhaft waren. Aber heute Morgen kam alles in ihr hoch und jeder Verdrängungsversuch schlug fehl.
Julia wanderte am großen Kanal entlang, hinauf in Richtung des kleinen Porzellantrianon, genau wie Monsieur Bontemps ihr empfohlen hatte. Und er hatte Recht: Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Sie erreichte den Pavillon, als die Sonne über dem Schloss aufstieg und alles in goldenes Licht tauchte. Einen Moment war sie von den Strahlen geblendet, deshalb bemerkte sie die Gestalt, die bereits auf einer der Bänke saß, zu spät.
Erschrocken erkannte sie Ludwig XIV. Sie wollte sich leise zurückziehen, doch er hatte sie schon entdeckt.
»Entschuldigt, Sire. Ich … werde sofort wieder gehen«, stammelte sie.
»Nein, bleibt, Mademoiselle.« Der König klopfte mit einer auffordernden Geste auf den Platz neben sich. »Leistet mir Gesellschaft und genießt den wunderschönen Morgen. Wir werden einmal die Etikette außer Acht lassen und so tun, als sei ich ein einfacher Mann.«
Zögernd trat Julia näher und setzte sich.
Ludwig sah wieder in den Sonnenaufgang. »Ihr mögt mich für eingebildet und arrogant halten, aber ich gestehe, es erfüllt mich mit Stolz hier zu sitzen und mein Schloss zu betrachten. In der Dämmerung ist es immer am schönsten, nicht wahr? Die Sonne ist dann am sinnlichsten, wenn sie mit ihren Strahlen die Natur erweckt und das Schloss beleuchtet. Die Sonne beinhaltet alles Gute. Sie schafft Leben und Freude, sie lässt alles wachsen. Sie bestimmt unser ganzes Leben. Ich habe mein Schlafzimmer extra nach ihrem Aufgang ausrichten lassen, weil ich dann besser aufstehen kann.«
Er seufzte leise. »Ist es nicht verrückt? Wahrscheinlich würde mir mein Beichtvater, Vater LaChaise, jetzt eine Predigt über den Hochmut und die Folgen halten, aber ich fühle mich in einem solchen Moment sehr stark. Diese seltenen Augenblicke geben mir die Kraft, mein Amt als König gottesfürchtig und ehrenvoll auszuüben.«
»Sire, ich halte das ganz und gar nicht für verrückt«, sagte Julia leise. »Ich denke, der Name Sonnenkönig passt sehr gut zu Euch.«
Ludwig lachte. Dabei konnte sie seine schiefen Zähne und einen schwarzen Zahn sehen. »Ein hübscher Name. Er gefällt mir.« Dann blickte er sie lächelnd an. Doch sein Lächeln wich einem Erstaunen. »Aber … Ihr habt ja geweint!«, rief er. Vorsichtig – beinahe verführerisch zog er ein Taschentuch aus dem Ärmel und strich mit zwei Fingern eine ihrer Tränen fort. »Wer hat Euch das angetan, Mamsellchen? Wer immer Euch wehgetan hat, Ihr braucht es nur zu sagen und Euer Monarch wird ihn für Euch bestrafen.«
»Habt Ihr nicht gerade gesagt, Ihr wäret im Moment ein einfacher Mann ohne königliche Befugnisse?«
»Ich erkenne die Schlagfertigkeit Eures Lehrers in Euch wieder«, stellte er schmunzelnd fest. »Wollt Ihr mir also als Freund verraten, wer oder was Euch betrübt?«
Julia konnte sich dieser schmeichelnden Stimme nicht entziehen. »Ich habe Heimweh. Nein, versteht mich nicht falsch. Ich liebe Versailles und ich bin Euch unendlich dankbar für Eure Großzügigkeit. Aber … vielleicht bin ich doch noch ein Kind. Ich vermisse meine Familie.«
Der König sah sie lange nachdenklich an.
Julia bereute ihr Geständnis bereits. Bei ihrer Ankunft hatte sie ihm vorgelogen, man hätte sie an einen viel älteren Ehemann verheiraten wollen und sie sei davor geflüchtet. Der erfundene Ehemann würde nun auf sie zurückfallen. Jetzt musste sie sich bestimmt einen Vortrag über das Pflichtbewusstsein von Töchtern ihren Vätern gegenüber anhören. Immerhin heirateten in diesem Jahrhundert tausende junger Frauen den Mann, den der Vater für sie aussuchte. Sogar der König hatte auf diese Weise geheiratet. (Gut, sein Vater war zu der Zeit schon tot gewesen, aber sein Vormund, Kardinal Mazarin, hatte das übernommen und ihm eine spanische Prinzessin zur Seite gestellt.)
Doch zu Julias Verblüffung machte Ludwig eine Geste, die er in der Öffentlichkeit nie tun würde: Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich heran.
»Das tut mir leid, Mamsellchen«, sagte er nur.
Eine Zeit lang schmiegte sich Julia an diesen warmen Körper. Ihr ging durch den Kopf, dass er als ein sehr unsauberer König in die Geschichte eingehen würde. Irgendein Chronist hatte festgehalten, er habe in seinem Leben nur dreimal gebadet. Aber tatsächlich roch er sauber und nach einem blumigen Parfüm, das seinem samtenen Wams entströmte. Sie schloss einen Moment die Augen und atmete den Duft ein.
Schließlich setzte sie sich wieder auf und lächelte ihn warm an. »Jetzt geht es mir schon viel besser. Danke, Sire.«
Ludwig lächelte zurück. »Gern geschehen, Mamsellchen.« Er seufzte bedauernd. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich wieder den Pflichten stelle. Das Lever beginnt in einer halben Stunde.«
»Aber Ihr seid bereits angezogen«, sagte Julia mit gerunzelter Stirn, »und sogar rasiert.«
»Doch für das Lever werde ich gleich wieder im Nachtgewand erscheinen«, sagte er und fügte ernsthaft hinzu: »Die Etikette bei Hofe umfasst nicht nur das Ankleiden. Sie wahrt meine Person als König.«
Julia nickte zwar, verstand aber kein Wort. Wie sollte es königlich wirken, wenn er gleich im Nachthemd vor dem Hof erschien?
Der König erhob sich und strich mit Daumen und Zeigefinger sein kleines Schnurrbärtchen glatt. »Bleibt ruhig sitzen und genießt den Morgen. Ich werde Montsauvan wissen lassen, wo er Euch findet.«
Er nickte ihr noch einmal freundlich zu und ging dann zurück zum Schloss.
Julia sah ihm nach und dachte wieder einmal, dass die Menschen dreihundert Jahre später ein völlig falsches Bild von diesem Mann haben würden. Nur bei seinen Zähnen lagen sie richtig. Die waren leider wirklich nicht schön.
***
In diesem Pavillon sitzend fand Etienne sie schließlich vor. Er ließ sich neben ihr nieder und obwohl Julia ihn bereits kommen gesehen hatte, wunderte sie sich wieder einmal, wie geschmeidig sich dieser große, drahtige Mann bewegte und dabei nicht ein Geräusch verursachte. Etienne war mindestens einen Meter neunzig groß, hatte braune schulterlange Haare – er brauchte keine Perücke – und sein Gesicht war durch eine Narbe entstellt, die sich über seine linke Wange bis zum Kinn hin zog. Man konnte ihn dadurch nicht wirklich schön nennen. Aber er war bei den Damen heiß begehrt. Und so wie er sich gerade wieder bewegte, wusste sie auch, wieso. Julias Herz pochte allerdings bei seinem Bruder Alexandre schneller. Der war nur zwei Jahre älter als sie und ein äußerst attraktiver junger Mann.
»Der König sagte mir, Ihr wärt in einer melancholischen Stimmung, und bat mich Euch aufzuheitern. Ihr seid schon so lange hier, aber geweint habt Ihr seit Monaten nicht mehr. Gibt es heute einen besonderen Anlass?«
Etiennes Stimme war einzigartig. Tief und mit vollem Timbre. Wenn er sang, bekam man unwillkürlich eine Gänsehaut und wenn er, wie jetzt, leise sprach, berührte sie einen tief im Bauch.
»Heute ist mein Geburtstag«, sagte sie so leise, dass er es fast nicht verstand.
»Ah«, sagte er gedehnt, als erkläre das alles. »Erinnerungen an vergangene Geburtstage haben Euch heute Morgen überschwemmt und Ihr hattet das Gefühl, selbst in einem modernen Schloss wie Versailles zu ersticken.«
Julia war wieder einmal verblüfft, wie genau er ihre Gefühle diagnostizieren konnte. Das war beinahe unheimlich. Sie hielt einen Moment inne. »Meine Mutter hat jedes Jahr die Story von meiner Geburt erzählt und das so anschaulich, dass wir alle gelacht haben. Hier erzählt niemand die Geschichte von meiner Geburt. Niemand holt Bilder hervor, von früheren Geburtstagen oder mir als Säugling. Hier weiß niemand, wann ich Geburtstag habe.«
»Was ist mit Eurem Vater? Ihr habt nie von ihm erzählt«, fragte Etienne. »Ihr berichtet immer nur von Eurer Mutter, der Schwester und den Eltern Eurer Mutter. Ist Euer Vater tot?«
Julia zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Mama spricht nie von ihm. Sie war immer so traurig, wenn wir sie danach gefragt haben, dass wir es aufgegeben haben. Und wir haben nie einen Vater vermisst. Opa hat mit uns viel unternommen, ehe er krank wurde.«
Der Gedanke daran, dass ihr Großvater womöglich schon gestorben war in der Zeit, die sie bereits hier war, war erschreckend. Die Tränen, die vor einer Stunde versiegt waren, kamen wieder. Diesmal war es Etienne, der den Arm um sie legte, und an seiner Brust fühlte sie sich deutlich wohler als an der des Königs. Bei Etienne fühlte sie sich … zu Hause. Und es kam ihr vor, als sei wenigstens ein Mitglied ihrer Familie hier bei ihr – was sie als äußerst tröstlich empfand. Sein Bruder mochte bei ihr vielleicht Herzklopfen auslösen, aber Etienne verströmte etwas ganz anderes: Geborgenheit. Und das brauchte sie an diesem Vormittag mehr als Herzklopfen.
Der Vormittag war bereits weit fortgeschritten, als sie sich endlich auf den Weg zurück zum Schloss machten. Kurz bevor sie in Sichtweite kamen, hielt Etienne sie zurück.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mignonne.« Er küsste sie zart auf die Wange und danach setzten sie ihren Weg fort.
Aber Julia wurde jäh aus ihrer melancholischen Stimmung gerissen, als sie eine aufgelöste Sophie in ihrem Raum vorfand. Die wartete seit Stunden auf Julia, um sie zur Tanzstunde beim Dauphin herzurichten, die jetzt natürlich lange vorbei war.
Madame de Sévigné, Versailles, an Madame de Grignan, Provence
Ein Hauch des Übels streicht durch Paris. Allenthalben sterben die Menschen. Unser neuer Polizeichef, ein gewisser Nicolas de la Reynie, gibt den schmutzigen Straßen von Paris die Schuld an all den Magenverstimmungen, die vielerorts zum Tode führen.
Stellt Euch vor, meine Gute, er hat veranlasst, dass die Pariser ihre Nachttöpfe nicht mehr durchs Fenster entleeren dürfen! Das hat zweierlei Vorteile: Zum einen können alle Bürger durch die Straßen gehen ohne Angst, von oben beschmutzt zu werden, und zum anderen gibt es viel weniger Verletzte und Todesfälle durch Fensterstürze.
Außerdem hat er veranlasst, dass die Gräber auf den Friedhöfen tiefer gegraben werden. Er behauptet, die unzureichend bedeckten Leichen lockten Ungeziefer und Ratten an, die Krankheiten in der Stadt verbreiteten.
Trotz seiner Bemühungen erreichte mich heute die Nachricht vom Tode des Grafen de Clermont. Der Arme scheint wahrlich elend gestorben zu sein. Aber ich möchte Euch nicht durch die Schilderung, die mir sein Sohn überbrachte, beunruhigen. Ihr müsst bald genesen und mich besuchen kommen.
2. Kapitel
HERZKLOPFEN
»Habt Ihr schon gehört? Der Graf de Clermont ist tot.«
Madame de Sévigné plumpste sehr unelegant neben Julia auf das Kanapee. Sie winkte hektisch einem Pagen, nahm ein Glas Wein von dessen Tablett und leerte es in einem Zug. Julia hatte sich soeben einen Teller am Abendbüffet gefüllt und ein ruhiges Plätzchen gesucht, von dem aus sie gehofft hatte, den Mondaufgang beobachten zu können. Dummerweise war es zwischenzeitlich dicht bewölkt und Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.
»Ich kann es noch immer nicht fassen. Tot!«, sagte Madame de Sévigné mit einem leichten Rülpser.
Julia sah die ältere Dame erstaunt an. Nicht, weil die Klatschbase Nummer eins schon wieder mit den neuesten Gerüchten hausieren ging, sondern eher weil Julia erst letzte Woche morgens während der Messe neben dem Grafen gestanden hatte.
Da war er quicklebendig gewesen und hatte ihr von seinem neuen Pferd erzählt. Er hatte gestrahlt und war ihr gesund und munter vorgekommen.
Meine Güte, so konnte man sich irren.
»Herzinfarkt?«, fragte Julia und erinnerte sich an seine Wangen, die so hübsch rot vor Aufregung geglüht hatten.
»Nein«, sagte Madame de Sévigné und beugte sich verschwörerisch vor. »Er hatte eine Magen-Darm-Verstimmung. Sein Sohn, jetzt der neue Graf, hat sich die letzten drei Tage um ihn gekümmert und erzählt, er musste ständig Erbrochenes aufwischen.«
Julia ließ den Hähnchenschenkel sinken, in den sie gerade hatte beißen wollen. Ehrlich, solche Geschichten sollten während des Essens verboten werden.
Das schien der Marquise auch aufzufallen. »Oh, entschuldigt, meine Liebe. Aber seit meiner Kur bin ich dermaßen abgehärtet. Dort wurde während der gemeinsamen Mahlzeiten ständig über sämtliche Verdauungsprobleme gesprochen. Mein Tischnachbar konnte seine Blähungen nie zurückhalten und es hat in seiner Nähe ständig nach Fäkalien gerochen. Ach, verzeiht. Ich höre sofort damit auf.«
Julia hatte entschieden den Teller zur Seite geschoben.
Sofort kam einer der zahlreichen Lakaien und räumte den halbvollen Teller ab. Wenigstens konnte sie sicher sein, dass ihr Essen nicht weggeworfen wurde. Sie hatte von Sophie erfahren, dass man sich in den Küchen über jede Speise freute, die zurückging, weil sich die Dienstboten so ernährten. Sie lebten von den Speisen, die von der königlichen Tafel übrig blieben.
»Aber dafür kann ich Euch noch eine weitere Neuigkeit berichten.« Madame de Sévigné beugte sich wieder verschwörerisch näher und Julia hoffte, es würde jetzt nicht um die erneute Schwangerschaft ihrer Tochter gehen. Die letzte war schon so aufregend gewesen, dass jeder bei Hofe bestens über die Entwicklung von Mutter und Bauchumfang Bescheid gewusst hatte. Sogar Sophie, ihre Zofe.
Monsieur de Brienne hatte Julia erklärt, niemand sei jemals so sehr schwanger gewesen wie die Tochter der Sévigné. Nicht mal die Königin.
»Madame de Montespan wird nicht mehr lange die Favoritin sein.«
Julias Blick huschte zur langjährigen Geliebten von Ludwig XIV.
Sie stand gerade am Büffet und füllte sich einen Teller, der beinahe überlief. Seit der letzten Schwangerschaft vor einem Jahr hatte sie die zusätzlichen Pfunde nicht mehr verloren und Julia schwante langsam, warum.
»Er muss sie seit Monaten nicht mehr aufgesucht haben und wenn, dann immer nur in Gegenwart der Kinder, hat mir Madame Scarron erzählt. Unsere schöne Athénaïs hat sich die Augen bei ihr ausgeweint. Obwohl …« Sie sah ebenfalls zu der zwischenzeitlich sehr stämmigen und aufgedunsenen Mätresse des Königs hin. »Schön kann man sie eigentlich nicht mehr nennen. Ihre Wangen sind eine Spur zu rot, um echt zu sein. Nicht einmal ein Landmädchen hat solche Apfelbäckchen. Anscheinend versucht sie mit aller Gewalt jugendlich und frisch für unseren Monarchen zu wirken. Als ob er blind wäre.«
Ludwig XIV. war alles andere als blind. Im Gegenteil. Ihm entging selten etwas. Erst letzte Woche hatte er Julia zu ihrem neuen Hut gratuliert. Der war ein Geschenk Etiennes gewesen, passend zu dem Reitkleid, dass der König ihr zu ihrer allerersten Jagd in Fontaine-bleau geschenkt hatte.
»Man munkelt, der König habe eine Neue.«
Madame de Sévigné gab nicht auf und Julia wusste, dass diese Neuigkeit in Versailles zu einer Menge Spekulationen führen würde.
Als neue Favoritin und Geliebte des Königs hatte man mehr Macht als die Königin Maria-Theresia, ehemalige spanische Prinzessin und Mutter des künftigen Königs von Frankreich. Madame de Montespan hatte dafür gesorgt, dass die Favoritin mehr Zimmer im engen Versailles bewohnte als die Königin. Sie hatte einen gewissen Einfluss auf den König und wer mit ihr gut stand, konnte auf des Königs Gunst vertrauen.
»Munkelt man auch, wer es ist?«, fragte Julia jetzt doch neugierig.
»Nein. Wenn es bislang jemand weiß, dann nur Bontemps, sein Kammerdiener. Und der ist verschwiegen wie ein Grab, weshalb er auch des Königs unumschränktes Vertrauen genießt.«
Julia dachte wieder an ihren Geburtstagsmorgen und nickte zustimmend. Mittlerweile war sie sich sicher, dass Monsieur Bontemps sie bewusst zum Pavillon geschickt hatte. Sie wusste nur noch nicht, warum.
»Wird Monsieur Flémont die nächste Zeit in Paris erwartet?«, fragte Madame de Sévigné unschuldig.
Julia versuchte ruhig zu bleiben, obwohl allein der Gedanke an Alexandre ihr ein Kribbeln im Bauch verursachte. Als ob Madame de Sévigné nicht wüsste, dass Alexandre nicht länger in der königlichen Armee diente, seit im Februar der Friedensvertrag mit Schweden und dem heiligen römischen Reich unterzeichnet worden war. Stattdessen stand er dem Generalleutnant in den Provinzen Metz, Verdun und Toul zur Seite.
»Ich würde sagen, er ist schon da«, entgegnete Julia, die gerade Alexandre durch die Tür den Salon betreten sah. Das Kribbeln in ihrem Bauch verwandelte sich in einen Schwarm Hummeln, ein Flattern, das sich bis in ihre Zehen ausbreitete.
Alexandre de Flemont war … ein Sexsymbol. So groß wie Etienne, so schlank, mit braunen, lockigen Haaren (keine Perücke!), allerdings mit grünen Augen und ohne Narbe im Gesicht, dafür aber mit hübschem kleinem Schnurrbart und Kinnbärtchen wie Orlando Bloom in »Fluch der Karibik«. Und wirklich: Genauso heiß. Und dieser umwerfende Typ kam auf sie zu. Zielstrebig. Julias Herz begann noch schneller zu schlagen.
Er küsste erst Madame de Sévignés Hand und beugte sich dann über die von Julia. Julia – und mit Sicherheit auch Madame de Sévigné – entging nicht, dass er ihre länger festhielt.
»Wir haben gerade von Euch gesprochen, Monsieur«, erklärte Madame de Sévigné.
Er zog überrascht eine Augenbraue hoch, genau wie sein Bruder, wenn er wegen etwas unsicher war.
»Ja, wir haben uns überlegt, ob Ihr während Eurer Abwesenheit noch gewachsen seid und Euch schon rasieren müsst«, sagte Julia ernsthaft. »Und tatsächlich. Euch ist ein Bart gewachsen.«
Madame de Sévigné stieß sie kichernd in die Seite. »Also ehrlich, meine Liebe, wenn das Euer Lehrer hört …«
Alexandre strich selbstgefällig und breit grinsend mit zwei Fingern über den Schnurrbart. Es war die gleiche Geste, die der König heute Morgen gemacht hatte. »Darf ich Euch kurz alleine sprechen?«, fragte er schließlich und hielt Julia wieder die Hand hin.
»Ihr werdet mir doch wohl nicht eine Predigt über vorlaute Mädchen halten wie Euer Bruder, oder?«, sagte Julia mit zusammengekniffenen Augen.
Jetzt lächelte er und wie schon so oft war sein Lächeln so atemberaubend und verlockend, dass sie nicht widerstehen konnte. Also ergriff sie seine Hand und ließ sich von ihm durch die dichte Menschenmenge aus dem Großen Gemach hinaus, über die Treppe der Botschafter bis zur Grotte der Thetis führen.
Mit jedem Schritt klopfte Julias Herz ein wenig heftiger. Alexandres Hand, die die ihre hielt, war warm, fest und stark. Sie spürte Schwielen an den Kuppen, die noch nicht dort gewesen waren, als sie sich vor zwei Jahren kennengelernt hatten. Die Hand eines Kriegers. Die Hand von jemandem, der sich nahm, was er wollte.
In dem großen viereckigen Bau der Grotte war es beinahe stockdunkel. Nur der Mond schien durch das Gitter und in der Ferne hörte man die Tiere der Menagerie und ein Käuzchen rufen. Es roch ein wenig modrig und gleichzeitig nach frisch gemähtem Gras. Wie ein lauer Sommerabend zu Hause.
Ein paar Glühwürmchen oder zwei Kerzen und es wäre herrlich romantisch, dachte Julia, doch in diesem Moment drückte Alexandre sie an die Wand, umfasste ihren Nacken mit beiden Händen und küsste sie.
Julia schoss durch den Kopf, dass das noch romantischer war als Glühwürmchen. Dann hörte sie auf zu denken und erwiderte seinen Kuss.
Als er sich irgendwann – Stunden später, wie es Julia vorkam – von ihr löste, atmeten sie beide schwer.
»Ich habe dich so sehr vermisst«, murmelte er und spielte mit einer Locke in ihrem Nacken. Sie fühlte seine Finger an ihrer Haut und es löste ein leises Kribbeln aus, das sich über die Schultern und den Rücken hinunter ausbreitete. Julia hoffte, es würde ewig andauern.
»Gab es keine Mädchen in Metz?«, fragte sie leise neckend. Ihre Nase war noch immer dicht an der seinen.
»Keines wie dich.«
Das hatte sie zu hören gehofft. Und es tat so gut, denn sie hatte ihn auch vermisst.
Sie küsste ihn wieder.
»Wie lange wirst du jetzt hier sein?«, fragte sie ihn eine kleine Ewigkeit später.
»Nur zwei Wochen, bis Monsieur de Boufflers, der Gouverneur und mein Vorgesetzter, alles mit dem König besprochen hat. Aber zum Maskenball Anfang August werde ich wieder da sein. Wirst du mir einen Tanz freihalten?«
»Natürlich.«
Sie blieben so lange in der Grotte, bis sie befürchteten, es wäre schon so spät, dass der König sich zurückzog und die Abendgesellschaft auflöste. Dann mischten sie sich unter die herausströmenden Höflinge, die ihre Unterkünfte für die Nacht aufsuchten.
Als Julia später im Bett lag, kribbelte es noch immer in ihrem Nacken, wo seine Finger sie berührt hatten.
3. Kapitel
MISSSTIMMUNG BEIM FRÜHSTÜCK
Etienne war am nächsten Morgen extrem kurz angebunden. Er hatte nach dem Lever das Frühstück gemeinsam mit Alexandre und Julia in dem Salon zwischen ihrer beider Schlafzimmer eingenommen und dabei nur mit Alexandre gesprochen. Eher gesagt ihn nach seiner Arbeit beim Gouverneur ausgequetscht.
Nun gut. Dann würde Julia eben auch nicht mit ihm reden. Sie schmierte frische Erdbeerkonfitüre auf ihre Brioche.
Julia hoffte inständig, Angélique de Fontanges würde bald eintreffen. Sie war Hofdame bei der Schwägerin des Königs und die wurde heute erwartet – sofern nichts Unvorhergesehenes auf der Reise geschah. Was man leider nie ausschließen konnte auf den ungepflasterten, holprigen und von tiefen Löchern gespickten Straßen im siebzehnten Jahrhundert.
Angélique würde nicht nur Julia die Zeit vertreiben, sondern auch Etiennes Laune aufbessern.
Das hoffte Julia zumindest, denn Angélique war ein bildschönes, amüsantes Mädchen und Etienne war in sie verliebt. Zumindest hatten sie eine Affäre und Julia kannte ihren Lehrer mittlerweile so gut, dass sie wusste, er würde sich nie mit jemandem einlassen, den er nicht mochte. In den eineinhalb Jahren, die sie jetzt mit ihm zusammenlebte, hatte sie herausgefunden, dass er den ihm angedichteten Titel »Frauenheld« zu Unrecht trug. Er wurde zwar von sämtlichen Damen bei Hofe vergöttert, aber tatsächlich hatte er bislang nur Angélique erhört.
»Es ging Seiner Majestät heute Morgen nicht gut«, antwortete Etienne auf eine Frage Alexandres, was sehr nach Smalltalk klang.
Allerdings ließen Etiennes Worte Julia aufhorchen. »Warum?«, fragte sie und vergaß, dass sie mit ihm nicht hatte sprechen wollen, wenn er sich so verhielt.
»Er klagte über Magenschmerzen und Schweißausbrüche, die ihn die ganze Nacht über wachhielten«, antwortete Etienne knapp.
»Hielt ihn nicht eher seine Geliebte Madame de Montespan wach?«, sagte Alexandre und zwinkerte Julia verschmitzt zu.
»Bestimmt nicht. Er war bleich und sein Haar klebte an seiner Stirn«, erklärte Etienne.
Jetzt legte Julia ihre Brioche ab. »Er hat noch seine Haare?«
Etienne sah sie zum ersten Mal an diesem Morgen direkt an. »Natürlich. Warum denn nicht?«
»Weil er immer diese voluminösen Lockenperücken trägt. Ich dachte, damit will er vielleicht eine Glatze verbergen und dem noch einen draufsetzen.«
Alexandre prustete in seinen Tee.
Etienne betrachtete sie streng. »Seine Majestät ist nicht kahl und hat es nicht nötig, irgendwas draufzusetzen«, wies er sie zurecht. »Er ist der König und muss edel und vornehm aussehen.«
»Und das kann man nur mit Perücke?«, hakte Julia kopfschüttelnd nach. »Ihr tragt doch auch keine.«
»Ich bin auch nicht der König«, erwiderte er kühl.
»Das sind Monsieur de Brienne und der Herzog de Noailles auch nicht und trotzdem tragen sie so ein Ding. Hat Brienne Geheimratsecken oder eine Tonsur?«, wollte sie wissen.
Etienne sah mittlerweile aus, als wäre er kurz vorm Explodieren.
Julia bemerkte Alexandres neugierigen Blick.
»Monsieur de Brienne …«, begann Etienne und wurde von Alexandre sofort unterbrochen: »Hat tatsächlich eine Art Mönchstonsur! Das fing schon direkt nach eurer Schulzeit an.«
»Ich finde es äußerst ungut, wenn wir über so intime Dinge von anderen Höflingen reden.« Etienne legte entschieden das Messer zur Seite und sah Julia und Alexandre nacheinander strafend an.
»Aber Ihr habt doch davon angefangen«, verteidigte sich Julia.
»Gewiss nicht.«
»Doch. Ihr habt von den schweißverklebten Haaren des Königs gesprochen. Wie läuft das eigentlich ab? Lever bedeutet doch aufstehen. Seid Ihr auch anwesend, wenn er badet oder sich rasiert?«, wollte sie eifrig wissen.
»Jetzt reicht es!« Etienne donnerte die Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte.
Julia sah ihn erstaunt an, ein Blick zu Alexandre verwirrte sie noch mehr. Der lächelte leicht.
Etienne stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Er hatte nicht mal seinen Kaffee ausgetrunken.
Was war mit ihm los? Er rastete doch sonst nie aus.
»Das ist ja sehr aufschlussreich«, sagte Alexandre leise und stibitzte sich die noch halbvolle Tasse seines Bruders.
Julia seufzte. »Ich hoffe wirklich, Angélique kommt heute an. Das wird ihn ein wenig aufmuntern.«
»Wetten, dass nicht?«, fragte Alexandre und zwinkerte wieder über den Tassenrand hinweg. Aber auf ihre Nachfrage gab er keine Antwort.
Sophie scheuchte Julia endlich vom Frühstückstisch auf. Der Dauphin wartete zu einer weiteren Tanzstunde.
4. Kapitel
DIE FREUNDSCHAFT DES DAUPHIN
»Ihr seid beim letzten Mal nicht gekommen.«
Ach, herrje. Sollte er wirklich so kleinlich sein und deswegen schmollen? Julia versank in eine Reverenz, einem sehr tiefen Knicks, den sie sonst nur dem König zukommen ließ. »Bitte entschuldigt, Hoheit, ich …»
»Louis.«
Julia sah erstaunt auf. Er hatte die blonde Lockenperücke abgenommen und kratzte sich leicht an der Schläfe. Er hatte dichtes, blondes Haar – warum um Himmels willen versteckte er es unter dieser monströsen Perücke? Was fanden die Männer in diesem Jahrhundert nur an diesen dämlichen unhygienischen Haaren? Julia fielen mindestens drei Edelmänner am Hof ein, die sich ständig kratzten und denen sie nie zu nahe kommen wollte.
Und ohne Perücke sah der Prinz gar nicht so puddingmäßig und kindlich aus wie sonst. In den letzten anderthalb Jahren war er noch ein gutes Stück in die Höhe geschossen und überragte seinen Vater auch ohne Absätze um ein paar Zentimeter.
»Ich heiße Louis für meine Freunde. Und wir sind doch Freunde, oder?« Der Dauphin legte die Perücke ab und fuhr sich jetzt mit beiden Händen durch die Haare.
»Monseigneur, Mademoiselle Julia wirkt eingeschüchtert durch Eure offene Haltung und Eure großzügige Geste, die sie natürlich nicht annehmen kann …«, begann Bischof Bossuet, der wie immer anwesende Lehrer des Prinzen, ihn zurechtzuweisen.
»Exzellenz, bitte lasst uns allein«, sagte der Dauphin und jetzt war Julia vollends platt. Noch nie, wirklich nie zuvor, hatte der schüchterne Sohn Ludwigs XIV. sich gegen seinen Lehrer aufgelehnt.
»Hoheit, ich denke, ich sollte …«, wollte der Bischof einwenden und wurde sofort wieder unterbrochen.
»JETZT, Exzellenz. Ich muss mit Mademoiselle Julia alleine sprechen.« Der Ton des Prinzen duldete keinen Widerspruch und Julia dachte, dass er vielleicht doch ein wenig von seinem Vater geerbt hatte. Bislang hatte sie immer angenommen, er schlage komplett nach seiner Mutter, der spanischen Prinzessin, die sich noch nie gegen ihren Mann aufgelehnt hatte und sogar seine Mätressen um sich herum und in ihrer Kutsche erdulden musste.
Bossuet verneigte sich nicht, wie die Etikette es verlangte, sondern ging und schloss die Tür mit einem ziemlich lauten Knall hinter sich. Die Musiker waren bereits beim ersten »Lasst uns allein« verschwunden.
Der Prinz lächelte Julia entschuldigend an. »Er hat immer Not, ich könnte auch nur den kleinsten Fehler begehen und dadurch nicht mehr königlich wirken. Wollen wir uns setzen?« Er deutete auf die Schemel, wo vorhin noch die Cellisten und Geiger gesessen hatten.
»Hoheit, es tut mir so leid, dass ich …»
»Louis. Bitte. Ihr seid meine Freundin und ich möchte wirklich, dass Ihr mich beim Vornamen nennt. Das tut sonst nur meine Mutter. Ich fühle mich ein wenig ausgegrenzt von allen anderen. Was natürlich zum einen an meinem Status als Thronfolger liegt und zum anderen an Monsieur Bossuet, der ständig in Furcht lebt, ich könnte böswilligen Opportunisten meine Gunst schenken. Doch wie soll ich je die Opportunisten von den Freunden unterscheiden lernen, wenn man mich mit keiner der beiden Gruppen in Kontakt kommen lässt?«
Julia setzte sich perplex. So viel und so energisch hatte er noch nie gesprochen.
»Stimmt was nicht?« Jetzt setzte er sich ebenfalls und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. Dann fuhr er sich erneut mit beiden Händen durch die Haare. »Ich soll heiraten.«
Aha. Sie hatte doch gewusst, dass was nicht stimmte.
»So eine Prinzessin aus Bayern. Ihr Bild ist …« Er suchte nach Worten und sah Julia schließlich verzweifelt an. »Sie ist hässlich. Und das, wo die Gemälde wegen des Heiratsmarkts ohnehin alle beschönigt werden. Trotzdem sieht sie aus wie ein Cocker Spaniel.«
»Darf ich das Bild sehen?«, fragte Julia, die nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Er erhob sich und öffnete einen der Wandschränke. Er kam mit einer Gravierung zurück und reichte sie Julia.
Julia dachte sofort, dass der Vergleich zum Cocker Spaniel sehr treffend war. Vor allem die Frisur – die aufgebauschten Locken waren wie eine Haube über die Ohren drapiert und hingen auf die Schultern hinab. Außerdem fehlte der langen Nase nur noch die feuchte, dunkle Spitze. Die Augen der Prinzessin erinnerten mit ihren Schlupflidern und Ringen an einen Frosch.
»Seht nur, wie lang die Nase ist. Länger als meine und das will was heißen.« Louis fasste sich an die Nase, das einzige wirklich unverkennbare Erbstück seines Vaters: ein Zinken, eine wirklich majestätische Nase mit Knick im oberen Drittel. Irgendwie sah man beim König darüber hinweg, aber bei dem blasseren Louis war das nicht möglich.
»Seht Ihr? Wenn ich mir das Gemälde ansehe«, er deutete auf die Gravierung, »dann fürchte ich mich vor den Kindern, die einer solchen Verbindung entspringen könnten. Wahrscheinlich müssten die vornübergebeugt gehen, weil die Mitte des Gesichts sie so nach unten zieht.«
»Dann machen wir eine kleine Stütze an ihr Kinn. Und im Winter reichen dafür die Eiszapfen, die aus ihren Rotznasen ragen«, kicherte Julia und der Dauphin stimmte in ihr Gelächter mit ein. Haltlos lachten sie ein paar Minuten.
Als sich beide wieder beruhigt hatten, versuchte Julia ihn ermutigen.
»Wisst Ihr, mein Lehrer, Monsieur de Montsauvan, hat diese Narbe am Kinn und irgendwie übersieht man sie komplett nach einer Weile. Jeder, der ihn kennt, achtet nicht mehr darauf.«
Jetzt schnaubte der Dauphin. »Euer Lehrer ist der begehrteste Mann bei Hofe und die Narbe lässt ihn nur noch attraktiver in den Augen der Damen erscheinen. Zeigt sie doch, dass er nicht immer so brav war wie in den vergangenen zwei Jahren. Seit Eurer Ankunft, um genau zu sein.«
Interessant. Bei Gelegenheit musste sie Madame de Sévigné mal über das aufregende frühere Leben Etiennes ausquetschen. Sie kannte ihn nur als zweihundertprozentigen Streber. Aber es stimmte, Etienne wurde von vielen Frauen angehimmelt. Vielleicht war er das falsche Beispiel gewesen. Julia probierte eine andere Strategie zur Aufmunterung.
»Was ist, wenn sie nett ist? Ein herzliches Mädchen, klug und witzig und einfach nur liebenswert? Würde dann die Nase noch eine Rolle spielen?«
Der Prinz sah Julia lange an und schüttelte leise den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich bin nur … nervös.«
Das konnte Julia sehr gut verstehen, wenn auch nicht nachvollziehen. Sie wagte eine Geste, die vor Bischof Bossuets Augen undenkbar gewesen wäre: Sie ergriff die Hand des Prinzen.
Louis seufzte und drückte leicht ihre Finger. »Um ehrlich zu sein hatte ich gehofft, mein Vater würde Euch zu meiner Frau bestimmen.«
Julia schnaubte undamenhaft. »Das ist absolut unmöglich. Ich habe keinen einzigen politischen oder wirtschaftlichen Vorteil für Frankreich zu bieten. Ich bin ein Niemand.«
»Manchmal war ich davon überzeugt, Ihr seid eine weitere Halbschwester«, überlegte er und betrachtete Julia eingehend, als könne sie doch ein wenig von seiner oder seines Vaters Nase in verkleinerter Form aufweisen. »Aber dann finde ich überhaupt keine Ähnlichkeit. Außerdem hätte ich von einem weiteren unehelichen Kind bestimmt längst gehört. Mutter, so ruhig sie auch jedem erscheinen mag, ist immer bestens informiert. Aber Euch kann sie nicht einordnen. Wer seid Ihr?«
»Die Frage stellt sich der ganze Hof«, antwortete Julia ausweichend. »Fest steht, ich habe Euren Vater das erste Mal auf der Jagd gesehen. Von der Geschichte habt Ihr ganz gewiss gehört.« Julia wollte das heikle Thema um ihre Herkunft so schnell wie möglich beenden und hielt wieder das Bild der Prinzessin aus Bayern hoch. »Sie schielt zwar leicht, aber ich mag ihr Lächeln«, sagte sie nach kurzer Betrachtung.
»Das wäre kein Problem, sofern ihr Lächeln aufrichtig ist«, meinte Louis.
»Habt Ihr jemanden, dem Ihr vertrauen könnt?«
»Außer Euch? Monsieur Bossuet.«
Julia schüttelte entschieden den Kopf. »Ich meinte jemanden, der nicht nur Frankreichs Wohlergehen im Kopf hat, sondern jemand, der Euch mag und sich für Euch auch eine gute Verbindung wünscht.«
»Meine Mutter«, war die prompte Antwort und sie war bei genauerer Betrachtung gar keine so schlechte Wahl. Königin Maria-Theresia wurde von ihrem Mann ganz offen betrogen. Seine Mätressen besaßen mehr Macht als sie. Ganz bestimmt wünschte sie sich für ihren Sohn eine glücklichere Ehe.
»Glaubt Ihr, sie könnte jemanden heimlich nach dem Charakter der Prinzessin forschen lassen?«, schlug ihm Julia vor. »Das sollte für sie kein Problem sein.« Vor allem nicht nach dem, was er ihr vorhin eröffnet hatte. Wer hätte gedacht, dass die stille, unscheinbare Königin über alles auf dem Laufenden war? Ob sie mit Madame de Sévigné zusammen Tee trank? Beziehungsweise Schokolade. Die schlechten Zähne Ihrer Majestät waren berühmt-berüchtigt.
Louis sah sie überrascht an und dann lächelte er. »Das macht Mutter bestimmt. Danke. Ich wusste, Ihr würdet mir helfen können.«
»Ich habe gar nichts gemacht«, widersprach Julia irritiert.
»Doch. Ihr habt mir ein wenig von der Furcht genommen. Würdet Ihr mir einen weiteren Gefallen tun?« Er nahm ihre beiden Hände in die seinen und sah sie mit einem flehenden Blick an. »Würdet Ihr mir ein wenig auf dem Cembalo vorspielen?«
Julia grinste. »Mit dem Blick, Louis, werdet Ihr auf alle Fälle das Herz eines Cocker Spaniels gewinnen.«
5. Kapitel
DATE ZU DRITT
Die Gedanken an eine Heirat beschäftigten den Dauphin und Thronfolger rund um die Uhr. Da war sein Vater ganz anders. Der König musste weibliche Gene in sich haben, denn er konnte viele Dinge auf einmal erledigen. Neben den ganzen Regierungsgeschäften und der Suche nach einer Prinzessin mit den größtmöglichen Vorteilen für Frankreich (wobei die Bayerin bislang die Spitze hielt) hatte er auch noch genügend Zeit, um den Ausbau seines Schlosses zu planen.
Handwerker schienen in Versailles zum Inventar zu gehören. Und auch nach den eineinhalb Jahren, die Julia bereits bei Hofe weilte, war noch lange keine Fertigstellung des großartigen Schlosses in Sicht – ohne spätere Umbauten von Ludwig XV. oder Marie-Antoinette einzubeziehen. Julia wusste, die Marotte »Ausbau von Ver-sailles« würde andauern bis zum Tod des Sonnenkönigs.
Und das war noch sechsunddreißig Jahre hin.
Momentan schwebte ihm ein Saal vor, groß genug, um die ausländischen Botschafter zu beeindrucken und den Damen seines Hofstaates einen gebührenden Tanzplatz zu verschaffen. Ludwig XIV. hatte kurz nach Julias Ankunft verkündet, die neue Metropole Frankreichs solle Ver-sailles werden. Dementsprechend sollten die ausländischen Botschafter ihren Monarchen von der Pracht und Einzigartigkeit des Schlosses erzählen können.
Ein Platz für diesen sagenhaften Saal war schnell gefunden: Die Terrasse vor des Königs Gemächern im Mittelteil des Schlosses musste überdacht und umgebaut werden. Der Saal würde überwältigend werden, die Dekorateure würden ihn königlich zu schmücken wissen und Le Brun, der königliche Hofmaler, hatte bereits Entwürfe für ein Deckengemälde ausgearbeitet und vorgelegt – die allerdings nur halbwegs Zustimmung beim König fanden.
Es fehlte etwas.
Etwas, das diesen Saal von den Salons des sogenannten Großen Gemachs unterschied und damit von allen anderen Ballsälen auf der Welt. Dieser Anspruch ließ Ludwig XIV. keine Ruhe, so dass der Architekt Mansart und Monsieur Le Brun mit ihren Ideen wieder fortgeschickt wurden – sie waren nichts Besonderes. Der König wollte nicht noch mehr griechische Mythologie. Die war im Großen Gemach zur Genüge verewigt worden.
Wochenlang war dieser Saal Gespräch unter den Höflingen und der König bot eine fürstliche Belohnung für denjenigen, der den zündenden Einfall hatte.
***
Julia beschäftigten andere Gedanken. Und Alexandre spielte darin eine nicht unwesentliche Rolle. Er hatte sie für den Nachmittag eingeladen, und als sie die verabredete Stelle erreichte – Montsauvan war zu einer Ratssitzung befohlen worden -, hatte sie ein Gefühl, wie sie es als Kind kurz vor Weihnachten gehabt hatte: Eine andächtige Aufregung und Spannung hatte von ihr Besitz ergriffen. Es fühlte sich an wie ein verspäteter Geburtstagswunsch, den sie sich nicht erträumt hätte und der sich jetzt erfüllen würde.
Julias Kopf war ganz leicht. Eine Bootsfahrt mit Alexandre – Sexbombe – Flémont. Allein mit ihr. Und das auf dem Grand Canal, der in Kreuzform 1,6 Kilometer lang und einen Kilometer breit war, über echte venezianische Gondeln und eine kleine Galeere mit der königlichen Lilie auf dem Segel verfügte. Zum Glück aber auch über ein paar kleine Ruderboote. Es würde also genauso romantisch werden, als ruderten sie durch Venedig. Oder noch romantischer, denn der Grand Canal roch viel angenehmer, es gab keinen Stau und sie waren umgeben von Wald und Wiesen.
Um nicht vom Schloss aus gesehen zu werden, nutzte Julia den Weg durch die Orangerie. Sie wusste genau, wenn Etienne sie vom Schloss aus sehen würde, würde er ihr nachkommen und sie zurückpfeifen, Ratssitzung hin oder her.
Doch ehe sie zwischen den hohen Hecken der neuen Boskette verschwinden konnte, sah sie Mademoiselle DesOeillets, die rechte Hand von Madame de Montespan.
Abrupt blieb Julia stehen.
Die DesOeillet war nicht allein. Bei ihr stand eine Gestalt in einem Kleid, wie es sonst Kaufmannsfrauen trugen. Sehr reiche Kaufmannsfrauen. Beide waren in ein Gespräch vertieft und hatten Julia nicht bemerkt. Sie versteckte sich hinter dem Eingang zum Irrgarten. Julia wagte einen Blick um die Hecke. Sie sah gerade noch, wie die Ehrendame der Montespan der unbekannten Frau einen prall gefüllten Geldbeutel überreichte und im Gegenzug ein Glas mit weißen Kugeln erhielt.
Ohne ein weiteres Worte zu wechseln, gingen die beiden auseinander. Julia kauerte sich hinter die Hecke, bis beide verschwunden waren.
Da Julia bezweifelte, dass die königliche Mätresse ihre Vorzüge aufgeben wollte, um eine Republik auszurufen, und Alexandre sie schon mit einem strahlenden Lächeln erwartete, hatte sie den Zwischenfall schnell vergessen.
Alexandre half ihr galant in eines der Ruderboote, und als er sich darin niederließ, streifte sein Fuß – ob Absicht oder nicht – den ihren und verharrte an ihrem Knöchel. Ihre Röcke, die in den vergangenen zwei Jahren gemäß der Mode an ein paar Unterröcken noch zugenommen hatten, bauschten sich und füllten ihre Seite des Bootes ganz aus. Die Sonne strahlte an diesem Julitag sehr warm.
»Wollt Ihr keinen Sonnenschirm?«, fragte Alexandre und griff nach den Rudern.
»O nein«, antwortete Julia voller Inbrunst. An diesem wunderbaren sonnigen Sommertag wollte sie auf gar keinen Fall im Schatten sitzen.
»Ihr werdet Euch Euren Teint verderben«, warnte er sie. »Das wird Etienne missfallen.«
Das bezweifelte Julia. Etienne mochte Menschen mit gesunder Gesichtsfarbe. »Mögt Ihr keine gebräunten Frauen?«, fragte Julia und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen.
»Ihr wisst ganz genau, was oder wen ich mag«, sagte Alexandre leise. Julia blinzelte und sah seinen lächelnden Blick auf ihr ruhen.
»Julia!«
Erschrocken zuckte Julia zusammen. Die Stimme gehörte nicht Etienne, und auch wenn sie sich sonst immer freute, sie zu hören, kam sie im Moment im denkbar unpassendsten Augenblick.
Angélique de Fontanges eilte auf sie zu.
Ende der Leseprobe
am 6. August 2015!
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