Das geheime Grab
In der Stadt Ulmen existiert ein Grab wie kein anderes.
Hier hat man am Vorabend der Verleihung der Stadtrechte das Dorf zu Grabe getragen.
Zumindest ist es das, was alle denken …
Hildegard Knopp lächelte jedes Mal, wenn sie am Grab vorbeikam. Es war ein zufriedenes Lächeln. Endlich hatte sie Ruhe vor Hubert Weingart, diesem Mistkerl.
Lange genug hatte sie seine Annäherungsversuche ertragen müssen. Nur, weil er sie vor zwanzig Jahren im Bikini am Maar gesehen hatte, war das kein Freifahrtschein, ihr nachzustellen. Viele Jahre konnte sie abends nicht allein das Haus verlassen. Von wegen Nachtspaziergänger. Stalker nannte man solche Leute heutzutage. Zwanzig Jahre lang musste ihr Mann Hermann sie zum Kegeln oder zu den Geburtstagen ihrer Freundinnen begleiten. Nie konnte sie abends allein ausgehen. Immer war ihnen der dämliche Misseler[1] begegnet. Er wusste genau, wann sie Kegeln ging. Seine Frau Erika war ja zwei Stunden vor ihr zur gleichen Kneipe gegangen. Durch seine Frau und die gemeinsame Arbeit im Frauen-und-Mütter-Verein wusste er auch, welche Veranstaltungen sie besuchte. Auch wenn Erika schon seit zehn Jahren tot war, war ihr Mann noch immer über Hildegards Unternehmungen im Bilde. Aber vor eineinhalb Jahren war er zu weit gegangen.
Sie hatte nur den Müll rausbringen wollen. Hinter den Mülltonnen hatte der Misseler in der Dämmerung auf sie gewartet. Er hatte sie gepackt und eine Hand brutal zwischen ihre Beine gedrängt. Hildegard hatte schreien wollen, aber da hatte er schon seinen widerlichen Mund mit den wulstigen Lippen auf die ihren gepresst. Sie hatte in seine Haare gefasst und versucht seinen Kopf zurückzuziehen. Hubert hatte überrascht aufgeschrien und kurz von ihr abgelassen. Aber dann hatte er sie nur noch brutaler gegen die Mülltonnen gezwängt. Das hatte ihr jedoch gereicht, um nach Hilfe zu schreien. Ihr Mann war nur eine Minute später erschienen, in dem Moment, in dem der Mistkerl seine Hose geöffnet hatte.
Hermann hatte ihn gepackt und ihm einen kräftigen Kinnhaken verpasst. Hildegard hatte nach dem Nächstbesten gegriffen, das sie erreichen konnte und Hubert an den Kopf geworfen. Eine Stubbiflasche aus der leeren Kiste neben den Tonnen. Die Flasche war noch ganz, aber von Huberts Stirn rann Blut. Er sah sie noch einmal groß an. Dann kippte er vornüber um.
Am Grab des „Dorfes“ Ulmen tippte Schmidt Nikla an seinen Hut: „N’Abend, Hubert.“
Seine Frau Agnes sah sich erschrocken um. „Um Gottes Willen, was, wenn dich jemand hört oder sieht?“
„Mir egal. Den vermutet niemand da drin. Eigentlich liegt der Misseler noch viel zu gut. Wir hätten ihn vor der Kirchenmauer verscharren sollen.“
Beide dachten an den finsteren Abend vor eineinhalb Jahren zurück, als ihr langjähriger Nachbar Hubert ihnen jenen schicksalsträchtigen Besuch zu später Stunde abstattete. Er war schon immer seltsam gewesen, dieser Misseler. Ein bisschen überheblich, ein bisschen herablassend. Dabei hatte er neben einem dämlichen Spruch stets dieses süffisante Lächeln auf den Lippen. An diesem Abend schien er aufgekratzter, entschlossener, gefährlicher. Unaufgefordert setzte er sich auch an diesem Abend an den Tisch und verlangte einen Schnaps für den Magen. Und einen zweiten, weil man auf einem Bein schlecht stehe.
Dann lächelte er Nikla träge an und erklärte, er wisse von seiner Affäre mit Strietze Traud. Wenn Nikla nicht wolle, dass seine Frau davon erführe, solle er ihm sein Feld auf der Hahnwiese überschreiben, ein Baugrundstück von stolzen eintausend Quadratmetern.
Nikla hatte nicht lange gefackelt. Er hatte Hubert am Kragen gepackt und rausgeworfen. Natürlich hatte Hubert sich gewehrt, aber Nikla war fünfzehn Jahre jünger und Straßenbauarbeiter. Er hatte eine Kraft in den Armen, die der ehemalige Katasterbeamte nie gehabt hatte.
Im Hof war Hubert auf den Kopf gefallen und liegen geblieben.
Daniel Mertens spuckte aus und traf das Grab. Für jeden anderen, mochte es aussehen, als habe er ein wenig Tabak seiner selbstgedrehten Zigarette ausgespuckt und dabei versehentlich das Grab getroffen. Aber Daniel hatte gezielt gespuckt. Er spuckte immer mit Genugtuung darauf, wenn er hier vorbeikam.
Dieser elende Misseler hatte es nicht besser verdient. Eigentlich hatte er ihm noch einen Gefallen getan. Wäre er normal beerdigt worden, wären bestimmt nicht so viele gekommen.
Hubert Weingart hatte seinem Arbeitgeber und ihm immer viel Ärger bereitet. Jedes Mal, wenn der den Laden betreten hatte, war die Zankerei schon vorprogrammiert gewesen. Der Fernseher war zu laut, der andere zu bunt. Der, den er dann kaufte, hatte nach zwei Monaten kein scharfes Bild mehr. Die Mikrowelle brummte, der Toaster röstete zu braun oder gar nicht. Und dann die ewigen Mahnungen. Es dauerte oft Monate, bis der Chef das Geld für die gelieferte Ware erhielt. Daniel musste wer weiß wie oft zu Weingart fahren und sich erst vom tadellosen Zustand der Geräte überzeugen (na ja, tadellos. Sie waren ziemlich knusselig nach all den Monaten) und sich dann auch noch Frechheiten anhören. Erst, wenn der Anwalt seines Chefs anrief, bezahlte Hubert Weingart. Aber von dem Geld bekam der Anwalt natürlich auch seinen Teil.
Nein, Hubert Weingart hatte bekommen, was er verdiente. Sein Chef hatte ihm nach der Beerdigung eine Gehaltserhöhung gegeben. Obwohl Daniel gar nichts Großartiges getan hatte. Aber wer hätte ahnen können, dass eine Schuldeintreibung direkt den Tod verursacht? Daniel war mit seinem Chef gemeinsam während der Mittagspause bei Weingart gewesen. Sie hatten ihm auf der Burg bei seinem täglichen Spaziergang aufgelauert und einmal richtig in die Mangel genommen. Es ging um das Geld für den Kühlschrank, das seit einem halben Jahr ausstand. Hubert hatte Rotz und Wasser geheult und versprochen, das Geld gleich morgen früh zu überweisen.
Aber dazu war es nie mehr gekommen.
Hermann und Hildegard hatten Hubert sobald es dunkel war, in seinen Garten geschleift und eine Schindel von seinem baufälligen Schuppen danebengelegt. Niemand würde Verdacht schöpfen. Wegen des Schuppens war es schon ein paar Mal zu Streitereien mit den Nachbarn gekommen, die Angst um ihre spielenden Kinder hatten.
Aber zu den Mülltonnen ging Hildegard seither nie mehr im Dunkeln. Sie glaubte dort noch immer den Geist von Hubert zu sehen.
Nikla und Agnes hatten Hubert kurz nach neun tot im Garten gefunden. Kurzerhand hatten sie ihn ans Maar gebracht und am Elter, dem Zulauf zum Maar, abgelegt.
Weit genug von zu Hause – ihrem zu Hause – entfernt. Man konnte meinen, er habe dort einen Herzinfarkt erlitten. Er hatte gar nicht tot ausgesehen. Er hatte ausgesehen, als wäre er eingeschlafen.
„Du weißt, dass ich dich nie betrogen habe“, sagte Nikla leise zu Agnes.
Sie lächelte ihrem Mann zu und tätschelt unbeholfen seinen Arm. „Ja. Das weiß ich.“
Als Daniel spät abends aus Ballings Stuff gegangen war, hatte er gehörig einen in der Krone. Er würde über die Burgruine gehen, ehe er das Bett aufsuchte. Dabei eine letzte Zigarette rauchen und wieder ein bisschen nüchterner werden.
Allerdings hatte ihn der Anblick auf der Burg schneller ausgenüchtert, als jeder Spaziergang. Hubert Weingart saß auf einer Bank. Tot.
Daniel hatte seinen Chef angerufen und der war fünf Minuten später schon da gewesen. „Haben wir ihn jetzt umgebracht?“, fragte Daniel ängstlich. Mord? Er war erst zweiundzwanzig. Er wollte nicht ins Gefängnis.
„Scheiße“, fluchte Johann Wallerath und fuhr sich durch die Haare. „Ausgerechnet dann, wenn Ulmen Stadt wird. Morgen wimmelt es hier nur so von Polizisten. Der Ministerpräsident wird anreisen und bestimmt ein Aufgebot an Sicherheitskräften mitbringen.“
Daniel sah, wie Johann Wallerath zitterte. Im gleichen Moment schrie er auf. Hinter ihm tauchte ein großer Hund auf. Ein Collie. Dicht gefolgt von Hildegard und Hermann Knopp.
Selbst im Mondlicht konnte man sehen, wie bleich die beiden waren.
„Wie kommt er hierher?“, fragte Knopp seinen ehemaligen Schulkameraden Wallerath und deutete auf den toten Weingart.
„Ich glaube, wir haben ihn umgebracht“, erklärte Johann Wallerath erzählte von seinem Besuch heute Mittag.
Aber Knopps schüttelten beide entschieden den Kopf.
Sie hätten ihn umgebracht. Zumindest hatten sie das gedacht. Sie erzählten von dem Vorfall bei den Mülltonnen. Plötzlich knurrte ihr Collie. Zwei weitere Gestalten tauchten auf.
Nikla und Agnes Schmidt waren zurück zum Maar gegangen, weil Nikla seine Armbanduhr vermisste. Die hatten sie gefunden, aber Hubert Weingart nicht mehr. Also hatten sie sich auf die Suche nach ihm gemacht.
Daniel dachte mit Genugtuung an den Moment zurück, in dem allen aufgegangen war, jeder von ihnen hätte den Mord begangen haben können. Keiner wusste, wer letztendlich dafür verantwortlich war. Aber alle wollten zusammen für das Verschwinden der Leiche sorgen.
Das Maar war zu unsicher. Taucher von der Wasserwacht übten da regelmäßig. Auch die Stollen boten kein gutes Versteck. Die Hundestaffel in Hochpochten bildete Spürhunde aus. Die Idee mit dem baufälligen Schuppen war die Beste, aber Nikla und Agnes wollten den Toten nicht in der Nähe haben. Das konnten alle verstehen. Sie hatten mit dem lebenden Hubert schon genug Scherereien gehabt. Sie brauchten nicht noch welche, wenn er tot war.
Da kam Daniel eine Idee. In zwei Stunden wollte Andreas „Rabbi“ Lenzen, der Wirt von Ballings Stuff, das „Dorf“ begraben. Eine feucht-fröhliche Beerdigung mit fiktivem Sarg, in den er eine alte Ulmener Fahne, ein paar Stubbis, zwei Flaschen Trester und einen schwarz gebrannten Schnaps gelegt hatte. Der Sarg war bereits vernagelt und mit einem alten Wisch verziert.
Hildegard und Hermann, Agnes und Nikla, Johann und Daniel waren sich einig, nie einer schöneren Beerdigung beigewohnt zu haben. Vor allem keiner lustigeren. Viele Menschen kamen zu der nächtlichen Zeit und stießen auf das neue Grab an. Man trank am Sarg Sekt, Schnaps und Bier. Keinen Wein. Immerhin wurde hier ein Eifler Dorf beerdigt und kein Misseler oder Hunsrücker Dorf. Eine Schieferplatte wurde als Grabstein aufgestellt, Lieder wurden gesungen. Allerdings keine kirchlichen, eher schlüpfrige.
Gutgelaunt gingen alle Stunden später in feuchtfröhlicher Stimmung nach Hause.
Am nächsten Morgen wurde Ulmen Stadt. Der Ministerpräsident erschien, viele Politiker kamen, viele Sicherheitskräfte und Polizisten waren unterwegs. Und jeder, der an dem Grab vorbeiging, lachte. Die Beerdigung hatte sich rundgesprochen.
Grabinschrift:
Nøu då, nøu lås dě lå
Mia weaděn desch nett fajößĕ.
Übersetzt auf Hochdeutsch:
Na sowas, jetzt liegst du hier.
Wir werden dich nicht vergessen.
Polnische Übersetzung:
Tak, Tak Hier nix mehr.
[1] Eifler Platt für jemanden, der von der Mosel stammt.
Alle Namen und Charaktere sind frei erfunden.
Bzw. fast alle. Danke für die freundliche Genehmigung von Andreas „Rabbi“ Lenzen, dem Wirt von „Ballings Stuff“.
Das Grab kann dort besichtigt werden.
Ich empfehle dazu einen Rotwein.
Liebe Moselaner, bitte nicht böse sein. Es ist alles frei erfunden! Hand aufs Herz.
© Sandra Regnier