Leseproben


Das Flüstern der Zeit

Prolog

Auch nach all den Jahren, die er bereits in diesem Zeitalter lebte, erstaunte es ihn immer wieder, wie sorglos die Menschen hier doch waren.

Alles war anders, und obwohl er sich schon an vieles gewöhnt hatte, gab es immer noch mehr, das ihn aufs Neue beeindruckte. Die Gerüche zum Beispiel. Hier roch fast alles gut und blumig. Die Frauen, die Seifen, die Wäsche, sogar die toiletten.

Die Musik war seltsam rhythmisch, hart und exotisch. Sein Gehör hatte sich daran gewöhnt, aber mit dem modernen Tanzstil konnte er sich immer noch nicht anfreunden. Ganz im Gegensatz zu dem angenehmen licht und den Mädchen, die in dieser Zeit wesentlich schöner waren als in der, in die er hineingeboren worden war. Heute abend war die Musik lauter als normal und das licht blinkte irritierend bunt über die Wände, verstärkt durch eine Spiegelkugel an der Decke.

Ein Mädchen mit langen blonden Haaren lächelte ihn an. Ihre Lippen waren blutrot geschminkt und glänzten vielversprechend. Ihre Augen musterten ihn interessiert.

Das war nicht ungewöhnlich. Sowohl in dieser Zeit als auch in seiner. er hatte immer die Blicke der Frauen auf sich gezogen. Nur war in seiner Zeit ziemlich schnell eine Anstandsdame zwischen diese Blicke getreten. Zumindest bei Mädchen in diesem alter. Bei den Mädchen, die ihn wirklich interessierten. Die verheirateten Frauen hatte er haben können. Diejenigen, die er nicht ehelichen konnte. Das war hier anders. Besser. Mädchen ergriffen die initiative und Aufpasserinnen oder Mütter waren selten dabei.

Er lächelte zurück und sie begann sich im Takt der Musik aufreizend zu bewegen.

In seinem Innern zog sich etwas zusammen.

Das Mädchen tanzte langsam auf ihn zu. ihr Blick war auf ihn fixiert. Sie bewegte ihre Hüfte, ließ sie kreisen, hob die arme über den Kopf. Das Shirt spannte über ihrer Brust.

Er spürte Flüssigkeit auf seine Hände tropfen.

Das Glas auf der Theke neben ihm war zersprungen. Das Bier lief durch die Scherben hindurch direkt auf seine Hände hinunter.

Er atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln, damit nicht noch mehr Gläser zu zerspringen begannen.

»Hallo!« Die Blondine hatte ihn erreicht. im schummri- gen licht konnte er sehen, dass ihre Wimpern unnatürlich dunkel und dicht waren. aufregend. Sie roch nach einem schweren Parfüm, und obwohl sie schwitzte, roch sie sauber. Blumig. Angenehm.

»Wartest du auf jemanden?«
Er lächelte. »Nur auf dich.«
Sie krallte eine Hand in sein Shirt und zog ihn mit sich zur Tanzfläche. Dort schmiegte sie sich eng an ihn, die arme auf seine Schultern gelegt. Er versuchte wie immer den direkten Hautkontakt zu vermeiden und umfasste deshalb die von einem engen top umhüllte Mitte. Er hatte schon festgestellt, dass die meisten diese Berührung noch mehr mochten als Händchenhalten. Davon abgesehen vermied er das Händchenhalten immer.

er versuchte ihren Schritten zu folgen, hob sie hoch wie bei einer ... er stockte. Beinahe ließ er das Mädchen fallen. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Hinter ihr, direkt ihm gegenüber, schwebte eine Flasche über einer Musikbox.

»Wow, du bist ganz schön stark.«

Die Blondine umfasste seine von langen Ärmeln bedeckten Oberarme und drückte sie. Wenn sie wüsste, woher seine Muskeln stammten.

Er ließ das Mädchen in seinen armen langsam zu Bo- den gleiten und zog sie dicht an seinen Körper. im Schutz ihres langen blonden Haares konnte er unter halb geschlossenen lidern alles genau beobachten. eine Hand griff nach der schwebenden Flasche. eine zarte Hand. Sie gehörte dem Mädchen mit dunklem pagenschnitt und einer dicken Brille. er kannte sie. er kannte sie seit seinem eintreffen vor fünf Jahren, so wie er die meisten Menschen hier kannte. Sie war um einiges jünger als er und immer in Begleitung. Sie hatte nie besonders gewirkt. Bis jetzt. er konnte sehen, wie sie sich besorgt umblickte und dann den Jungen an ihrer Seite in die Rippen knuffte.

Der Junge hatte ebenso dunkles, jedoch strubbeliges Haar und war einen Kopf größer als sie. auch er war ihm bekannt. Das Mädchen, weit von der Schönheit entfernt, die sich eng an ihn schmiegte, aber doch irgendwie interessant, ließ die Flasche fallen. Doch anstatt dass sie am Boden zerbrach, blieb sie kurz vorher schon wieder in der Schwebe hängen. Abermals sah er das Mädchen den Jungen knuffen und jetzt schlug die Flasche auf den Boden auf. Wo sie vollkommen aufrecht stehen blieb. Das Mädchen bückte sich, wurde von jemandem angerempelt und verlor das Gleichgewicht. Die Flasche kippte um.

Er hätte gelacht, wenn die Situation nicht so brisant gewesen wäre.

Ihr Begleiter half ihr auf die Beine und er konnte genau erkennen, dass er dem Mädchen dabei nicht die Hand reich- te, sondern sie über ihrem langärmligen Pulli am Ellbogen fasste und hochhob. Für jeden anderen musste es sehr behutsam wirken, aber für ihn, der etwas ahnte, schien es, als würde der Junge eine direkte Hautberührung vermeiden wollen. So wie er es auch gern vermied. er sah, wie der Junge sich zu dem Mädchen hinunterbeugte, als wolle er sie küssen.

Genau in diesem Moment ging das licht aus, die Musik verstummte abrupt und in das aufstöhnen der anwesenden mischte sich ein Donnergrollen von außen. auch das noch. ein Stromausfall.

»Hast du Angst?«, fragte das Mädchen in seinen Armen, das er in der plötzlich eingetretenen Dunkelheit nicht mehr sehen konnte. Er spürte ihre Hand in seinem Haar und ihre Lippen an seinem Kinn. Bis jetzt waren es zum Glück nur die Lippen.

»Nein«, antwortete er nicht ganz ehrlich. Feuerzeuge flammten auf, verbreiteten aber nur ein spärliches licht. Dennoch war es genug, um ihn erkennen zu lassen, dass das Mädchen mit der Brille und der dunkelhaarige Junge verschwunden waren.

Er schob die Blondine in seinen Armen zurück.

»Du brauchst keine angst zu haben. Das ist nur ein Gewitter«, sagte sie und versuchte, ihn wieder an sich zu ziehen.

Dabei rutschte ihre Hand in seinen Nacken und sie berührte seine Haut. Er schüttelte sie ab, als habe ihre Berührung ihn verbrannt. er musste weg. er musste hier raus. er musste das dunkelhaarige Pärchen finden.

Ein Donnerschlag krachte und er fühlte seine Kontrolle verlieren.

Raus. Nur raus. Panisch drängte er sich durch die Menge. Dabei konnte er den einen oder anderen Hautkontakt nicht verhindern. Bilder blitzten vor seinen Augen auf. Bilder, die er gern vermieden hätte.

Und dann ertasteten seine den Weg suchenden Finger eine Hand. im selben Moment donnerte es wieder mit voller Kraft. Die Wände schienen unter dem Knall zu beben. Die Feuerzeuge gingen aus. es wurde stockfinster. Und dennoch hatte ihn die angst verlassen. er blieb stehen, verharrte in der Berührung, aber das Bild, das sie erzeugte, ließ ihn nicht fürchten. Dieses Bild hätte er gerne länger bewahrt.

Das Licht ging wieder an.

Gespannt blickte er zur Seite, doch neben ihm befand sich niemand mehr. Nur die tür nach außen war angelehnt. Und die leere Bierflasche rollte auf dem Boden daneben um- her.

Mit einem mulmigen Gefühl sah er zur Tür hinaus. Mulmig war noch zu nett ausgedrückt. Er fühlte eher einen Magenhieb. es gab noch jemanden wie ihn. Jemanden, der sich als gefährlich entpuppen konnte. Und leider ließ es sich nicht ganz deutlich sagen, ob es sich um das Mädchen oder den Jungen handelte. Und welche Konsequenzen es für sein Dasein in dieser Zeit hatte.

 

1. Kapitel

Neuanfang

Ich starrte in den Spiegel.
Sah ich anders aus? Nervös strich ich über die paar verwirrten Strähnen in meinen schulterlangen dunklen Haaren, bis sie alle glatt und gleichmäßig lagen. Um es genau überprüfen zu können, setzte ich meine Brille auf und kontrollierte mein Spiegelbild, indem ich den Kopf einmal nach links und dann nach rechts drehte. Fast gleichmäßig. Die Strähne links drehte sich stets nach außen, nie nach innen.

Ich sah also aus wie immer. Allerdings fühlte ich mich nicht so.

Mein Magen hatte einen Knoten.

Hätte nicht irgendwas anders sein müssen? Ein Leuchten? Ein Strahlen? Hinter den Gläsern meiner Hornbrille sah ich die gleichen grünen Augen wie immer. Kein besonderes Strahlen. Kein Funkeln. Nein, nichts leuchtete.

Warum auch? Ein Kuss löste ja keine wirkliche biologische oder chemische Veränderung im Körper aus.

Oder ich hatte einfach den Falschen geküsst.
»Meredith! ich muss zur Arbeit! Bis heute Mittag!« Mums Stimme tönte von unten und riss mich aus meinen Gedanken. ein Blick auf die Uhr besagte, dass ich jetzt ebenfalls lossollte.

Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Wenigstens die Lippen hätten doch anders sein können. ein wenig voller, angelina-Jolie-mäßiger statt meines Kirsten-Dunst- Schmalmunds.

Enttäuscht wandte ich mich ab, schnappte mir meinen Rucksack, den ich wegen der vielen Hefte und Bücher nie zubekam, und lief die treppe hinunter. Unten musste ich gleich wieder eine Vollbremsung hinlegen, denn sonst wäre ich mit Mum zusammengestoßen, die bereits an der Haustür stand. Und natürlich flogen durch den abrupten Halt sämtliche Bücher aus meinem Rucksack.

»Verdammt.«

»Man flucht nicht. Das bringt Unglück«, tadelte mich Mum sanft, bückte sich, sammelte die Bücher ein und schob sie so ordentlich in meinen Rucksack, dass er sich zum ersten Mal seit Wochen wieder schließen ließ.

»Ich gehe nur den halben tag arbeiten«, erklärte sie dann und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach’s gut.«

Kaum war sie aus der Tür, eilte ich in die Küche, schnappte mir das von Mum bereitgelegte Sandwich und die Trinkflasche und verließ ebenfalls das Haus. ich war knapp dran. Mist.

Unterwegs ließ ich den Samstag noch einmal Revue passieren und stolperte prompt über eine Unebenheit im Bürgersteig. Meine Trinkflasche fiel zu Boden.

»Man hört schon, wer da geht«, sagte eine wohlbekannte Stimme hinter mir. Ein helles Lachen folgte.

Dann holte Shakti mich ein. ihre tiefschwarzen Haare fielen ihr glatt und glänzend bis auf den Po hinunter und ihre indische Herkunft wurde wie immer durch die farbenfrohen Klamotten und großen Ohrringe unterstrichen. Shakti und ich kannten uns schon seit der Einschulung und waren seitdem Freundinnen. In der Secondary School waren wir noch enger zusammengerückt.

»Meredith, wann lernst du endlich, beim Gehen auf den Boden zu schauen, statt mit dem Kopf in der nächsten Physikformel zu hängen?«

»Hab ich nicht«, antwortete ich und schob meine verrutschte Brille wieder zurück aufs Nasenbein.

»Bei jedem anderen Mädchen würde ich ja behaupten, sie denke an einen Jungen. aber da du es bist, bleibt höchstens noch die Mathematik. Ehrlich, du entsprichst dem Prototyp des zerstreuten Professors. Ich möchte einmal einen Tag erleben, an dem du nichts umschmeißt oder stolperst.«

»Na, vielen Dank auch«, sagte ich und hoffte, damit meine Verlegenheit überspielen zu können. Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie gerade mitten ins Schwarze getroffen hatte. Wenngleich der Junge, an den ich dachte, sie mit Sicherheit überrascht hätte.

»Nicht böse sein, Meredith.« Sie tätschelte mir jovial den Rücken. »Irgendwann kommt bestimmt auch für dich der Richtige. Der, der mit dir gemeinsam Einsteins Relativitätstheorie überarbeitet und mit dem du dann im Schweizer CeRN atomare Teilchen beschleunigen kannst.«

»Eigentlich hatte ich vor, einen Engländer zu heiraten und drei Kinder in die Welt zu setzen, um denen dann bei Hausaufgaben helfen zu können, die alle anderen nie hinbekommen.«

Ich hörte Shakti seufzen. »Das war ein Scherz, Meredith.«

Ich grinste. »Das weiß ich doch. ich habe auch einen Witz gemacht.«

Sie sah mich an und grinste dann unsicher zurück. Ob- wohl sie nicht humorlos war, war jeglicher Sarkasmus in ihrer Gegenwart eine vollkommene Verschwendung.

»Trägt Michael dich noch auf Händen?«, wechselte ich das Thema. auch wenn es sehr unbeholfen war, es wirkte jedes Mal, Shakti auf ihren aktuellen Freund anzusprechen, in den sie immer schrecklich verliebt war und der sie dann nach ein paar Monaten schrecklich unglücklich machen würde, nur damit sie sich von neuem in einen absolut wunderbaren Jungen verlieben konnte. Michael war zwei Jahre älter als wir und ihr Traum Boy Nr. 5 – wenn ich richtig gezählt hatte. Wie vorhergesehen begann Shakti sofort jedes Wort und jede Geste von ihm zu wiederholen. ich schaltete ab, bis wir das College erreichten.

Hier war mehr Betrieb. auch wenn manche Kurse erst später anfingen, meine A-level-Kurse begannen – leider – alle pünktlich um halb neun. Genau wie an der Secondary School früher. Shakti konnte dreimal die Woche länger schlafen, weil sie andere Kurse besuchte. ich hätte mich viel- leicht auch lieber in Richtung Rechtswissenschaften orientieren sollen. Aber andererseits ... Mathe und physik lagen mir. Dabei musste ich nicht denken, es funktionierte einfach.

»Sag mal, Meredith, wir haben Frühjahr. Möchtest du nicht mal was Helles auf deine dunkle Jeans anziehen? Ich glaube, Orange würde dir gut stehen.« Shakti war, obwohl extrem bunt, immer chic. Leider wäre ich mir in diesen Farben wie eine Banane unter lauter Äpfeln vorgekommen.

Auf unserer vorherigen Schule hatten wir alle hellblaue Blusen mit Krawatte auf dunkelblauen Faltenröcken tragen müssen. Und bei unseren Ausflügen nach London sogar quietschgelbe Sweatshirts auf lilanen Jeans. Das waren die einzigen Ausflüge in meine Welt der bunten Klamotten gewesen. Zum Glück war die Zeit der Schuluniformen jetzt seit einem Dreivierteljahr vorbei und damit auch meine bunte Zeit, egal was Shakti mir riet.

Wir hatten die Secondary School gemeinsam hinter uns gelassen, ja, sogar die Primary School. Wir, das bedeutete Shakti, Rebecca, Chris, Colin und ich.

Colin. Fast elf Jahre verbrachten wir beinahe jeden tag zusammen. Niemand kannte mich besser als er. Von meinen vier Freunden stand er mir am nächsten.

Und jetzt war nichts mehr wie vorher.

»Alles klar, Meredith? Colin und du seid am Samstag so schnell von der Party verschwunden, dass wir uns kurzzeitig richtig Sorgen gemacht haben.« Rebecca holte zu mir auf. Sie hatte mir gerade noch gefehlt. Im Gegensatz zur verträumt- verliebten Shakti war Rebecca immer hellwach. Ihr entging nie etwas. Nie.

»Ich hatte Kopfschmerzen«, log ich. Prüfend blickte sie mir ins Gesicht, nickte dann aber verständnisvoll. Leider hatte ich oft Kopfschmerzen. Gut, dass sie mir zumindest mal als ausrede dienen konnten.

Ich sah mich nervös um.
Wo war er?
Sonst stand er jeden Morgen vor dem Collegegebäude, um auf mich zu warten. Na bitte.
Nichts war mehr wie sonst. Nicht mal auf seinen besten Freund konnte man sich verlas- sen.

»Ich glaube, ein Superhirn zu haben ist nicht immer einfach. Meine These ist ja immer noch, dass die grauen Zellen, von denen du mehr hast als andere, dir zu viel Druck bereiten, daher die Kopfschmerzen. apropos graue Zellen: Hast du die Mathehausaufgaben fertig? Darf ich mal sehen?«

Ich sah mich wieder um. Nichts. »Machst du je deine Hausaufgaben?« ich war zu angespannt, um diplomatisch zu sein.

»Ich habe sie ja gemacht. ich wollte nur vergleichen. aber okay, dann frage ich halt jemand anders.«

Eingeschnappt rauschte sie davon. Rebecca war schnell eingeschnappt. Zum Glück war es auch genauso schnell wieder gut. Das lag wahrscheinlich an ihrem Vater, Vikar Hensley, der uns jeden Sonntag alles zum thema Vergebung predigte.

Doch wo war Colin? Wieder schaute ich mich um.
Er sah mich zuerst.
Ich spürte seinen Blick im Rücken.
Das war nicht ungewöhnlich. Er war mein bester Freund,

Ich hatte ihn immer als den Bruder gesehen, den ich mir stets gewünscht hatte. Und ich hatte gedacht, ich sei für ihn die Schwester, die er gern gehabt hätte an Stelle seines dämlichen Bruders Theodor.

Hatte. Das war das entscheidende Wort. anscheinend hatte ich falsch gedacht.